Rund acht Jahre dauerte der Algerienkrieg. Er endete 1962 mit der Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie. Die Verkündung des Waffenstillstandes jährte sich 2022 zum sechzigsten Mal, doch die Aufarbeitung der Geschehnisse hat gerade erst begonnen. Denn die Umstände dieses Krieges waren alles andere als schmeichelhaft für die Grande Nation, die nur wenige Jahre zuvor gegen Hitlers Nazi-Deutschland gesiegt hatte.

Der Kampf um Algeriens Zukunft wurde auf beiden Seiten mit größter Brutalität geführt. Folter, Bombenattentate und Schießereien waren an der Tagesordnung. Leidtragende waren vor allem die Zivilisten, dazu die unvorbereitet in den Kampf geworfenen französischen Wehrpflichtigen und schließlich die von den abziehenden Truppen im Stich gelassenen algerischen Hilfssoldaten, die Harkis. Was 1954 mit Guerilla-Aktionen der algerischen Front National de Libération (FLN) begann, gipfelte in einer Eskalation der nationalistischen Terrorgruppe Organisation de L’armée secrète (OAC), die die von Präsident de Gaulle in Aussicht gestellte Aufgabe der französischen Kolonie nicht akzeptieren wollte.

Über Jahrzehnte hatten Politik und Gesellschaft die sogenannten Ereignisse (les évènements) totgeschwiegen. 1999 wurde die »Operation zur Aufrechterhaltung der Ordnung« erstmalig offiziell als Krieg bezeichnet. Doch erst unter Emmanuel Macron wird das Thema aktiv angegangen. Die Wahrheit über die Vorkommnisse soll offengelegt und unter der Leitung des Historikers Benjamin Stora aufgearbeitet werden. Ziel ist die Annäherung und Aussöhnung der beiden Länder. Dabei sollen sowohl die Verbrechen der Kolonialzeit als auch die komplexen Geschehnisse der letzten Monate aufgearbeitet werden, in denen die algerische als auch die französische Zivilbevölkerung hohe Opfer zu beklagen hatte.

Originalfoto einer Familie, die 1962 auf dem Passagierschiff Kairouan aus Algier nach Marseille floh. Das historische Dokument ist Teil meines Recherche-Archivs. 

Damit rückt erstmals auch die Gruppe der Pieds Noirs in den Fokus. Und damit das Schicksal von rund einer Million Algerienfranzosen, die nach Ausrufung der Unabhängigkeit gewaltsam vertrieben wurden. „Koffer oder Sarg“ war das Motto, und so flohen die Menschen in großer Hast – das Lebensnotwendige oft nur in einem einzigen Koffer – vor der extremen Gewalt der algerischen Extremisten. Marseille, an dessen Hafen die meisten Rückkehrer-Schiffe anlegten, platzte damals aus allen Nähten.

Doch auf dem französischen Festland waren die Familien nicht willkommen, man bereitete den sogenannten Rückkehrern einen unfreundlichen, sogar feindseligen Empfang. Die französische Bevölkerung hatte den Krieg satt und gab den Ankömmlingen eine Mitschuld. Sie wurden verachtet, weshalb einige Geflüchtete auch Jahre später nicht zuzugeben mochten, ein Pied Noir zu sein. Ein Phänomen, das sich in die Folgegenerationen vererbt hat.

Zuflucht fanden viele Pieds Noirs in Carnoux-en-Provence. Der Ort liegt in einem lang gestreckten Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln, eingefasst von dem Massif de Saint-Cyr und dem Massif de la Sainte-Baume.

Hier, nur wenige Kilometer vor Cassis, entsprach nichts dem gängigen Bild einer südfranzösischen Stadt. Keine leuchtenden Farben, keine bunten Fensterläden, keine Balkone mit schmiedeeisernen Geländern. Auch keine Tondächer oder Natursteinmauern. Alles hier war rostrot, beige oder strahlend weiß verputzt, selbst die kubisch gebaute Kirche mit ihrem auffälligen Glockenturm, der seitlich davon kerzengerade in den Himmel ragte.
Aus: Provenzalische Täuschung

Carnoux-en-Provence im Entstehen.

VOM ZUFLUCHTSORT ZUR STADT

Bei meinem Besuch im vergangenen Jahr hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten. Die Wurzeln von Carnoux-en-Provence liegen auf der anderen Seite des Mittelmeeres und die Gebäude sind Spiegel der dortigen Bauweisen. Von den weißen Bungalows über den im Stil der Cathedrale Sacre-Coeur von Casablanca gehaltenen Glockenturm bis hin zum Rathaus, einem kubischen Bau mit Rundbogenfenstern im oberen Stockwerk. Die Stadt ist sauber und gepflegt, beinahe futuristisch steril. In den lang gestreckten Wohnblöcken, die den Ortskern dominieren, wohnen längst Arbeitende aus den umliegenden Tourismusburgen.

Ich wollte unbedingt wissen, wie dieser Ort entstanden ist, und fand Antworten in dem Buch „Carnoux-en-Provence: Le vallon du retour“ von Nicolas Bouland, das mir eine Dame im Rathaus empfahl. Die enthaltenen Informationen habe ich in „Provenzalische Täuschung“ einfließen lassen:

»Die Geschichte beginnt im Jahr neunzehnhundertsiebenundfünfzig. Damals war ein Bauunternehmer aus Casablanca an der südfranzösischen Küste auf der Suche nach einem geeigneten großen Grundstück. Er wollte nach der Unabhängigkeit Marokkos für sich und einige andere Rückkehrer eine neue Heimat finden, eigenes Land. Deshalb hat er unter Gründung einer Genossenschaft aus weiteren Unternehmern in Casablanca die zum Verkauf stehende Bastide erworben.«
Pierre lehnte sich im Stuhl zurück und lauschte ihrer Stimme. Er konnte sich gut in die Zeit zurückversetzen, als die Bastide noch das einzige Gebäude war an diesem Ort. Vor seinem inneren Auge erblickte er die unverfälschte Landschaft, von der sie erzählte, das stille Tal auf dem Weg zum Meer. Er konnte die Obstbäume sehen und die siebzehn über hundertjährigen Zedern aus dem Libanon. Die Weinberge, Kalksteinfelsen, Pinienwälder und die 
garrigue mit ihrem gelb blühenden Stechginster.
Aus: Provenzalische Täuschung

Alte Postkarte aus den sechziger Jahren

Zur erworbenen Bastide, in dem die ehrwürdige Hostellerie La Crémaillère untergebracht war, gehörte ein Grundstück von 270 Hektar. Erste Häuser werden gebaut, noch überwiegt die Natur. Mit Ende des Algerienkrieges kommen auch Algerienfranzosen nach Carnoux-en-Provence. Weitere Hochhäuser entstehen, um die vielen Neuankömmlinge unterzubringen, der Ort wird immer größer, weitere Landkäufe kommen hinzu. Im Jahr 1966 wird die Zufluchtstätte ganz offiziell zur Stadt. Doch sie kann die Heimat nicht ersetzen. Die meisten Pieds Noirs fühlen sich entwurzelt und sehnen sich nach dem Land ihrer Geburt. Nach dem alten Algerien, L’Algérie française, dem ‚verlorenen Paradies‘.

Die alte Bastide aus dem 17. Jahrhundert existiert auch heute noch, sie ist das Einzige, das hier Provenzalisch anmutet. Das Gebäude liegt ein Stück nach hinten versetzt und nimmt sich aus wie ein Zuschauer, ein Zaungast aus dem vergangenen Jahrhundert, der den Wandel der Zeit erstaunt beobachtet. Die Hostellerie La Crémaillère ist nach wie vor fester Bestandteil im Leben der Einheimischen. Im Restaurant wird gegessen, gefeiert und getagt. Es gibt sogar einen Jazzkeller, in dem regelmäßig Bands auftreten.

An diesem historischen Platz befragt Pierre eine Zeugin, die übrigens genau das Gericht isst, das ich während meiner Recherchen probiert habe: salade de rouget au citron confit.