Es war eine große Halle. Licht fiel durch die hohen Fenster und beleuchtete eine lange Druckbahn, die offenbar bereits gesäubert worden war. Das Metall glänzte in der Reflexion der Sonne, es stand im starken Kontrast zu dem Staub auf dem Boden und den Spinnenweben an Decken und Wänden. Gegenüber, an der verputzten Mauer, prangte ein Graffiti, das frisch aufgesprüht war und das man offenbar extra für die Modenschau hatte anfertigen lassen. Ein echtes Kunstwerk, das dem Raum das Ambiente einer Galerie verlieh.
Pierre trat näher. Die Lieutenante hatte nicht zu viel versprochen. Ja, es war tatsächlich grandios.
Aus: Provenzalisches Licht

Es ist Mitte November, als ich die historische Stoffdruckerei von Les Olivades zu Fuße der Alpillen besuche. Das Manuskript ist fast fertig, die Hintergrundrecherche nahezu abgeschlossen. Weil es in dem Roman auch Szenen gibt, in denen das Innere einer solchen Fabrik beschrieben wird, möchte ich mir vor Ort einen Eindruck verschaffen.

Als ich das Gebäude betrete, bin ich zunächst überwältigt von den farbenfrohen Stoffen, die aufgerollt oder zusammengelegt in den Regalen ausgestellt sind. Blumen- und Fantasiemuster, historische und moderne. Ein weiterer Raum voller Farbmuster zur Gestaltung von Wohnräumen. Ich könnte Stunden hier verbringen, kann mich an den Stoffresten und Musterbüchern kaum sattsehen. Und ich freue mich darauf, mehr über die Herstellung der Waren zu erfahren.

Inhaber Jean-François Boudin erwartet mich am Verkaufstresen. Er ist der Sohn von Pierre Boudin, der 1948 die Leitung der Fabrik in Saint-Étienne-du-Grès übernahm. Die 1818 errichtete Stoffmanufaktur stellte als einzig verbliebene provenzalische indiennes in alter Handwerkstradition her. Über Jahrzehnte war die Fabrik von Eigentümer zu Eigentümer gegangen, bis sie 1937 an Charles Démery fiel, dem Gründer von Souleïado. Als deren bunt bedruckten Kleider in Saint-Tropez für Furore sorgten, legte er die Produktion in Pierre Boudins Hände, um sich gemeinsam mit seiner Frau Hélène dem Design und Vertrieb zu widmen. 1956 firmierte die Fabrik unter dem Namen Société avignonnaise d’impression sur tissus (SAIT). Inhaber: Pierre Boudin.

Souleïado, Tarascon

Der große Erfolg kam erst Mitte der siebziger Jahre. Die Kreationen der neuen Designerin Chantal Thomass eroberten das Luxussegment. Souleïado wuchs schnell, es entstanden Franchise-Läden auf der ganzen Welt. Rund 2000 Filialen brachten das Flair der Provence nach Paris, Tokio, New York und Stockholm. Ein Flair, dessen Muster auf den langen Produktionsbahnen in Pierre Boudins Fabrikhallen entstanden.

Auf dem Höhepunkt des Erfolges trennten sich die beiden Unternehmer im Streit. Fabrikant Boudin gründete 1977 die Marke Les Olivades nach dem gleichnamigen Gedichtband von Frédéric Mistral. Die neue Firma brachte eigene Designs auf den Markt, die sie in den ehrwürdigen Fabrikhallen auf Stoffe druckten. Aus Partnern wurden Konkurrenten. Die beiden Familien redeten seither kein Wort mehr miteinander. Und Démery kaufte die Materialien für Souleïado fortan bei Stoffdruckereien außerhalb der Provence.

Anfang der 80er Jahre übernahm Pierre Boudins Sohn Jean-François das Unternehmen. Es war das goldene Zeitalter der provenzalischen Stoffe. Bald hatte auch Les Olivades Filialen auf der ganzen Welt. Rund 30 Franchisenehmer boten Kleidung, Tischwäsche und Wohntextilien an. In den neunziger Jahren kam der Einbruch, der Bedarf sank rapide, die Umsätze gingen zurück. Während Souleïado unter Démerys Nachfolgern 1996 in Konkurs ging und erst nach dem letzten Inhaberwechsel schwarze Zahlen schreibt, schaffte Les Olivades es durch die Turbulenzen.

Im Zuge der Globalisierung drehten sich die Märkte schneller und die Preise sanken. Es bedurfte einiger Kraftanstrengungen, um das Traditionsunternehmen in die neue Zeit zu führen. Als die Söhne Philippe und Nicolas 2018 einstiegen, gab es umfassende Umstrukturierungen. Alle verbliebenen FIlialen wurden geschlossen. Die Boudins konzentrierten sich auf ihre Kernkompetenz: dem Druck hochwertiger Stoffe. Heute produziert das Unternehmen zu 50 % für Marken, die Wert auf gute Qualität und Authentizität legen, darunter bekannte Firmen für Möbelbezüge (Edmond Petit) oder Tischwäsche (Tara Provence). Kooperationen mit renommierten Designern wie Nathalie Dupasquier, Alberto Pinto und Joran Briand halten die Marke im Gespräch. Giganten wie Uniqulo ordern Stoffe für spezielle Kollektionen.

Ich bin neugierig, wie Jean-François Boudin die Balance zwischen Tradition und Moderne hält und freue mich auf die Besichtigung der historischen Fabrik. Der Inhaber führt mich durch eine Lagerhalle, vorbei an gebleichten Baumwollstoffen, die für den Druck vorbereitet wurden. Und weiter zur Druckstraße, wo uns Ricardo erwartet, Farbexperte und Vorarbeiter in einem. Er soll mir den Druckvorgang demonstrieren.

Interessiert sehe ich dem Geschehen zu. Routiniert füllt Ricardo die Farbe ein und beaufsichtigt das Aufbringen der Muster mithilfe von riesigen Druckplatten.

Die Kunden wissen die hohe Qualität des klassischen Siebdruckes zu schätzen, sagt er. Doch es ist auch eine kostspielige Angelegenheit. Für jedes neue Muster werden mehrere Rahmen produziert, einer pro aufgetragene Farbe. Eine hohe Investition – und nicht jeder ist bereit, den Preis dafür zu bezahlen.

Klienten aus dem Interieur-Bereich wollen selbst designte Stoffe kostengünstig produziert haben. Im Möbelmarkt werden meist schmalere Bezüge benötigt, auch die Mengen sind kleiner. Auf diese Bedürfnisse musste reagiert werden. Die Erweiterung auf die digitale Produktion begann mit zwei kleineren Textildruckern. Ende 2020 kam ein größerer hinzu. Stolz zeigt mir Ricardo einen raumfüllenden hochmodernen Digitaldrucker. Es ist die erste industrielle Druckmaschine für Textilien, die mit bis zu 16 Farbkanälen arbeitet.

Man muss flexibel sein, um in dieser Branche zu bestehen, denke ich auf dem Weg zu meinem Auto. Und ein enormes Durchhaltevermögen besitzen. Die Boudins scheinen einen Weg gefunden zu haben, sich gegen das Verschwinden alter Handwerksbetriebe zu stemmen. Gemeinsam, als in der Provence verwurzelte Familie.

Wer jetzt mehr über die Geschichte der provenzalischen indiennes wissen möchte, der kann sie in „Provenzalisches Licht“ nachlesen. Ich wünsche viel Vergnügen!